Im Jahre 2010 verabschiedete die Europäische Union die Richtlinie 2010/63/EU und schuf darüber für die europäischen Mitgliedstaaten ein Instrument, mit dem es möglich wird, wirksame Maßnahmen zur Reglementierung des Tierversuchs gesetzlich umzusetzen. Eine überragende Bedeutung wird dabei der Implementierung des 3R-Prinzips von Russell und Burch (1959) beigemessen. Dieses Konzept entspricht hierbei der Kerngröße des Werkes "The principles of humane experimental techniques". Darin beschreiben die britischen Wissenschaftler William Russell und Rex Burch, dass idealerweise jedes Tierversuchsvorhaben durch ein Alternativverfahren zu ersetzen wäre (Replace). Sollte dies nicht möglich sein, so sollte stets die kleinste notwendige Anzahl an Versuchstieren eingesetzt werden (Reduce). Im Versuch sollten die Versuchstiere so wenig wie möglich Schmerzen, Leiden oder Schäden erdulden müssen, daher sollten alle Verfahren am Tier im Sinne einer Belastungsreduzierung verfeinert sowie die Förderung des Wohlbefindens forciert werden (Refine).
Somit gibt die Richtlinie nicht nur vor, die Zahl der für Versuchszwecke eingesetzten Tiere numerisch zu reduzieren sowie die mit dem Tierversuch assoziierten potentiellen Belastungen durch geeignete Refinement-Maßnahmen zu minimieren, sondern fordert auch dazu auf, Tierversuche durch Alternativen zu ersetzen. Tatsächlich erweist sich die stringente Umsetzung der EU-Richtlinie als schwierig. So bemängelte die EU bereits 2018 eine fehlerhafte Übertragung des EU-Tierversuchsrechts in deutsches Recht. Unter anderem wurde eine unzureichende Implementierung des 3R-Gedankens bemängelt. Dabei wird die Anwendung des 3R-Konzepts durch Etablierung einer Culture of Care explizit im Erwägungsgrund 31 der EU-Direktive erwähnt, ist in praxi jedoch noch nicht abschließend etabliert.
Neben dem internationalen Culture of Care Network beschreiben auch Brown und Klein/Bayne , dass wesentliche Komponenten, wie Kommunikation, Wertschätzung von Mensch und Tier als auch die Haltung und Professionalität der Fachkräfte, zur Etablierung einer Culture of Care nötig sind. Die Umsetzung einer Culture of Care geht folglich mit hohen Standards in Bezug auf Tierschutz und humane Wissenschaft einher und erfordert eine wertschätzende Interaktion und Haltung für Mensch und Tier.
Das bedeutet im Rückschluss, dass der Begriff „Culture of Care“ im Sinne der EU-Direktive als auch der genannten Autorinnen als ein angemessenes Verhalten und eine Einstellung gegenüber allen Tieren und Mitarbeitern verstanden wird. Dies ist auf allen Ebenen einer Institution (Leitung, Wissenschaft, Pflege) durch Eigenverantwortung und proaktive Haltung gekennzeichnet.
Die Analyse von Kennzeichen einer konkreten Culture of Care sowie die Frage nach der bildungstheoretischen Vermittlung wurde gegenwärtig vermehrt diskutiert . Unklar bleibt, insbesondere für den Forschungsstandort Deutschland, welche Bedeutung einer Culture of Care im Kontext der 3R-Strategie zukommt und welche Kennzeichen in diesem Kontext zukünftig relevant sind.
Das beschriebene Desiderat zeigt sich besonders in der Analyse aller beteiligten Ebenen, daher setzt das geplante Forschungsvorhaben an eben diesen an und reflektiert darüber einen höchst interdisziplinären Ansatz, ganz im Sinne des 3R-Konzepts von Russell und Burch.
Anknüpfend an die intensive und differenzierte Herleitung der historischen Verankerung und Rezeption im Konzept einer Culture of Care, fokussierte das geförderte Projekt eine Nachzeichnung der Kennzeichen einer Culture of Care mithilfe der qualitativen Sozialforschung. Das im Vorhinein erarbeitete Forschungsdesign erlaubt mithilfe der Forschungsfrage ein systematisches und differenziertes Bild abzubilden. Die erhobenen Daten beruhen auf einem nichtstandardisierten Erhebungsverfahren (themenorientierte, leitfadengestützte Experteninterviews) und wurden in der Leitungsebene, der Wissenschaftsebene, der überwachenden Ebene und der Pflegeebene durchgeführt. Dieser qualitative Ansatz erlaubt „theoretische, methodologische und methodische Zugänge zur sozialen Wirklichkeit“ herzustellen und das Konzept einer Culture of Care möglichst komplett und ganzheitlich abzubilden (von Kardorff 1995: 3) . Das qualitative Vorgehen verfolgt im ersten Schritt keine zähl- oder messbaren Resultate zu generieren. Vielmehr ist das Ziel, den individuellen Sicht- und den subjektiven Erlebnisweisen der Expert*innen Raum zu verleihen und die Kontexte, Bedingungen, Strategien und Konsequenzen für die Culture of Care zu verstehen und als theoretisches Modell abzubilden.
Ausführende Institution
ICAR3R - Interdisciplinary Centre for 3Rs in Animal Research Justus-Liebig-Universität Gießen Frankfurter Strasse 110 35392 Gießen
Förderlaufzeit
10/2020 - 06/2022